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«Wer wirft den ersten Stein?»

Ein Theaterstück von 1943 
von Elsie Attenhofer

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Wer wirft den ersten Stein?

Es ist ein Sonntagabend im März 1938 und wir befinden uns im Wohnzimmer der Familie Studer irgendwo im Kanton Zürich. 

Die Mutter liest in der Bibel. Der zeitungslesende Vater berichtet vom bevorstehenden Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland und blickt mit Sorgenfalten Richtung Osten, da womöglich von einem bevorstehenden Krieg die Rede ist. Ganz anders der Sohn Ernst, der das Radio repariert und wie einige junge Männer seines Alters für die Sache der Nationalsozialisten sympathisiert. Während die jüngste Tochter Urseli beiläufig davon erzählt, wie jüdische Mitschülerinnen und Mitschüler regelmässig gehänselt werden, bereitet sich just in diesem Moment die ältere Tochter Vreny auf ihr Vorstellungsgespräch beim jüdischen Arzt Dr. Stern vor. Dies stösst allerdings nicht bei allen Familienmitgliedern auf Verständnis stösst.

​Diese Szenerie entwickelt sich schon bald zu einem Abbild der Gesellschaft jener Zeit, in der der Antisemitismus latent spürbar war und quer durch viele Familien ging.

Die 1909 in Lugano geborene Hotelierstochter Elisabetta Fanny Attenhofer, wuchs in Zürich auf, besuchte dort die höhere Töchterschule, arbeitete als Sekretärin bei einem Psychiater, nahm Gesangs-, Mal- und Fechtstunden, war als Bildhauerin aktiv und erhielt als eine der ersten Schweizerinnen 1931 das Pilotenbrevet. Dies vielfach begabte junge Frau fand in den 1930er-Jahren ihre wahre Berufung, und focht fortan als Teil des legendären Polit-Kabaretts, dem «Cabaret Cornichon», mit scharfzüngigen Worten auf der Bühne, meist gegen den Faschismus und Antisemitismus, da sie viele jüdische Mitmenschen zu ihrem Freundeskreis zählte.  Aber auch auf der Kino-Leinwand war sie zu sehen, so beispielsweise 1938 in der Filmproduktion «Füsilier Wipf», einem Schlüsselfilm der sogenannten Geistigen Landesverteidigung.

Sie heiratete 1940 den Germanisten und späteren Rektor der ETH, Karl Schmid, den sie auf dem Filmset des «Füsilier Wipf» kennenlernte. Elsie Attenhofer diente während des Krieges als Rotkreuz-Fahrerin und trat an den Wochenenden regelmässig auf verschiedenen Bühnen wie dem Corso-Theater und dem Schauspielhaus Zürich auf, so auch in der Hauptrolle der Gilberte de Courgenay, der Theaterfassung des Filmklassikers der Geistigen Landesverteidigung schlechthin.

Elsie Attenhofer 
1901-1999

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Theater als Hilfe, sich das Unvor-stellbare vorstellen zu können

Die Schauspielerin und Kabarettistin Elsie Attenhofer schrieb 1943 «Wer wirft den ersten Stein?» aufgrund einer unscheinbaren Zeitungsnotiz über eine Judenrazzia in Paris. Wachgerüttelt über diese Gräuel, musste sie handeln und verfasste dieses, aus ihrer eigenen Sicht, wichtigste Bühnenstück ihrer Schaffenszeit. Ihr Repertoire reichte vom Chanson bis zur ausgefeilten Parodie. Damit stellte sie sich in den Dienst gegen Intoleranz und extreme Weltanschauungen, wovon «Wer wirft der erste Stein?» zeugt.

Dieses «Zeitstück», wie es Elsie Attenhofer bei jeder sich bietenden Gelegenheit nannte, basierte auf der grössten Judenrazzia in Frankreich während des Zweiten Weltkrieges. Ohne Mitwirken der deutschen Besatzungsmacht, verhaftete die französische Polizei am 16. und 17. Juli 1942 fast 13’000 ausländische und staatenlose Juden, darunter über 4000 Kinder und trieb diese im alten Radsportstadion in der Nähe Eiffelturm, dem «Wintervelodrom» zusammen. Unter unmenschlichen Bedingungen, während mehrerer Tage festgehalten, wurden diese via Zwischenlager ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo die allermeisten den Tod fanden. 

​Diese Juden-Razzia wurde auch in den Schweizer Medien thematisiert und war auch den Schweizer Behörden bekannt. Dennoch blieb ein Aufschrei aus.

Dagegen galt es aus der Sicht Elsie Attenhofers anzukämpfen. Es galt die Gesellschaft aufrütteln und den Menschen in der Schweiz ihren eigenen Spiegel der Gleichgültigkeit vorzuhalten und gegen diese Gräuel zu protestieren. 

Im Programmheft von damals schrieb sie: «Die meisten Leute lesen zwar die Zeitung und hören Radio, aber sie erkennen die ganze fürchterliche Tragweite dessen, was da manchmal mit ein paar Zeilen abgetan wird, nicht, weil sie sich das Berichtete nicht vorstellen können. Und dieser Kraft, sich das Geschehende vorstellen zu können, wollte ich nachhelfen.»

Das Stück wurde im Oktober 1944 in Basel uraufgeführt und entwickelte sich bis zum Kriegsende zu einem mit grossem Erfolg auf vielen Deutschschweizer gespielten Bühnenstück: Mitten im Krieg musste sich das Schweizer Publikum mit einem Thema auseinandersetzen, das nur schwer zu verdauen war: den Gräueln des Antisemitismus und der damit verbundenen Rolle der Schweiz. Weitere Aufführungen nach Kriegsende sind nicht mehr belegt.

Die vielfach ausgezeichnete und mit Kulturpreisen überhäufte Elsie Attenhofer verstarb 1999 in Bassersdorf. In Nachrufen war die Rede davon, dass die «Grand Old Lady» des Kabaretts endgültig von der Bühne gegangen sei. «Der Bund» schrieb gar, Attenhofer habe die «Ehre der Schweizer Dramatik der Kriegszeit» gerettet. 

Die «Junge Bühne Freiestrasse» spielt in erster Linie historische Themen, die mit unserem Hier und Jetzt und Verbindung stehen, thematisch und örtlich.  Gespielt wird auf Mundart, der Sprache, die unseren Emotionen am nächsten liegt und in der es den Jugendlichen leichter fällt, in Rollen einzutauchen und sie mit ihrer Sprache zum Leben zu erwecken.

Der Wunsch der Truppe war, ein Stück rund um die Thematik der Judenverfolgung zu spielen. Da aber «Anne Frank» auf Mundart nicht denkbar ist und der Bezug zur historischen Schweiz gegeben sein sollte, machten wir uns auf die Suche. Hierbei stiessen wir auf den Artikel in der «Republik», der uns zu Elsie Attenhofers «Zeitstück» führte, das heute leider – zu Unrecht – längst vergessen ist.

 

Und weil das Stück von ihr explizit als «Zeitstück» benannt wurde, war es uns wichtig, auch im Bereich der Inszenierung so zeitgemäss wie möglich zu bleiben. Wir spielen dieses Zeitstück von 1943, um zu zeigen, dass wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen müssen, um zu verstehen, was in der Gegenwart passiert. 

Unser Weg zum Stück

Einblicke in die Proben

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